Gegen den Wind

Übertragen von www.windwahn.de – dort veröffentlicht am 05.07.2011

Müller ist Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, eines mächtigen Zu-sammenschlusses von 1800 Versorger-unternehmen, darunter Stadtwerke und Netzbetreiber, aber auch die vier großen Atomkraftwerksbetreiber RWE, E.on, Vattenfall und EnBW. Sie ist in der CDU seit ihrem 16. Lebensjahr, sie erinnert sich, wie sie als Teenager in Düsseldorf im katholischen Mädchengymnasium saß und mit ihren Mitschülern und 68er-Lehrern über Atomkraft diskutierte. Es war die Zeit von Tschernobyl, die Zeit der Anti-AKW-Buttons, die Zeit des Dafüroder-dagegen-Seins, und Müller gehörte schon damals zu denen, die die Kernenergie „trotz aller Risiken“ für eine gute Sache hielten. 40 Jahre lang verteidigte die Union die Kernenergie als saubere, sichere Energieform – über Harrisburg hinweg, über Tschernobyl hinweg –, und mit ihr tat das lange auch Hildegard Müller. Noch im Herbst hat sie sich bei der Regierung für die Laufzeitverlängerung eingesetzt.

Und jetzt, keine neun Monate später, sagt sie Dinge wie: „Ich will nicht, dass diese Energiewende scheitert“, oder: „Die Erneuerbaren sind das Leitsystem der Zukunft.“ Müller will den Atomausstieg bis spätestens 2022 – das ist in etwa so, als würde sich der Deutsche Bauernverband gegen Massentierhaltung engagieren.

Foto: HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / DER SPIEGEL
Strom-Lobbyistin Müller
Eine Operation am offenen Herzen

Etwas in ihrer Welt hat sich verschoben. Die geordnete Zeit des Dafür-oder-dagegen-Seins ist etwas Neuem gewichen: Atomkraftbefürworter werden zu Atomkraft-skeptikern, Atomkraftskeptiker fürchten sich vor erneuerbaren Energien –wegen der Landschaft, wegen des Lärms, wegen der Schweinswale. Vergangene Woche stimmte im Bundestag eine breite Mehrheit für den Atomausstieg. Die Energiewende, das spürt Müller, ist auch eine Wende von Überzeugungen.

„Wenn ich hier jetzt aus dem Fenster schaue“, sagt sie und zeigt Richtung Straße, „dann sehe ich nichts, was mit Energieerzeugung zu tun hat. Bisher hatten wir zentrale Standorte, Kraftwerke, die nur die sehen, die drum herum wohnen.“ Die meisten hätten kein Gefühl dafür, wo der Strom für ihren Kühlschrank herkomme. Jetzt brauche man Netze, Gaskraftwerke, Speicher. „Die neue Energieversorgung wird sichtbarer sein.“

Sichtbarer. Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden, der sich besser vorstellen kann, was das bedeuten soll, als Jutta Reichardt. Bei ihr hat die Energiewende schon lange vor Fukushima angefangen.

Jutta Reichardt steht an ihrem Teich, einen Eimer mit Futter in der Hand für die Tiere, Kanadagänse, es ist ein warmer Nachmittag in Neuendorf-Sachsenbande, keine 13 Kilometer vom AKW Brunsbüttel entfernt. Kälber laufen hinterm Haus, Vögel singen, und die Windräder, die Reichardts Grundstück umzingeln, machen dazu ein Geräusch, als stünde man auf dem Seitenstreifen einer Autobahn.

Reichardt ist eine sportliche Frau, Choreografin und Moderatorin, Mitte 50, die Sonne hat ihre Haut goldenbraun gefärbt. „122 Windräder in einem Umkreis von wenigen Kilometern“, sagt sie, dreht sich und zeigt mit dem Finger in die Ferne. „Das da“, sagt sie und nickt mit dem Kopf in Richtung Windanlage, „das da ist gerade mal 320 Meter von unserm Haus entfernt.“ Sie greift in den Eimer, streut, sie trägt eine rote Tunika, eine Brille mit rotem Rahmen, sie wirkt jugendlich, aber sie sei krank, sagt sie, ihr Mann sei krank, „krank durch Windkraft“.

Tinnitus, Schlafstörungen, Bluthoch-druck, Herzrhythmusstörungen, Geschwüre in den Schleimhäuten – mehrere Klinikaufenthalte. Vor 17 Jahren ist Reichardt mit ihrem Mann, einem Ingenieur, aus Hamburg hierher gezogen, aufs Land. Sie kauften einen Resthof, steckten ihr Geld hinein, 400 000 Euro, ein schönes Haus, roter Backstein. Von ihrem Grundstück aus kann man die tiefste Landstelle in Deutschland betrachten, 3,54 Meter unter der Meeresoberfläche, die Nordsee ist nur eine gute halbe Autostunde entfernt.„Wir wollten Ruhe und Natur“, sagt Reichardt, das war ihr Traum.

Am Anfang waren es nur drei Windkraftanlagen, „was konnte man 1994 schon gegen Windkraft haben?“, sagt sie. Aber es wurden mehr, von Jahr zu Jahr zu Jahr. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz der Rot-Grün-Regierung griff. Die Bauern in der Umgebung ließen eine Anlage nach der anderen auf ihren Feldern aufstellen, wegen der Pacht, die sie dafür einstrichen, vielleicht auch, weil sie dachten, etwas für das Klima zu tun. Auch bei Jutta Reichardt haben sie vor der Tür gestanden, die Vertreter der Windkraft-firmen und der Bürgermeister. Und als sie sich sperrte und später eine Bürgerinitiative gründete, wurde sie für viele in der Gemeinde zum Feind. Sie sei bedroht worden, sagt Reichardt, merkwürdige Dingeseien geschehen, zerkratzte Autos, nächtliche Anrufe. „Für die Bauern steht ja viel Geld auf dem Spiel“, sagt sie, „die kassieren zwischen 18000 und 20000 Euro pro Windrad.“

Foto: JÖRG MÜLLER / AG. FOCUS / DER SPIEGEL
Windkraftgegnerin Reichardt, Windräder in Schleswig-Holstein: Tinnitus, Schlafstörungen, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen

Es ist dieses Geräusch, ein „Wupp-wupp-wupp“, so beschreibt es Reichardts Mann, der sich neben seiner Frau aufstellt, „dieses Monotone, immer wenn der Flügel den Mast passiert“. Bei Windstärke eins klinge es wie eine Autobahn, sagt Jutta Reichardt. Bei Windstärke zwei wie eine schleudernde Waschmaschine. Und ab drei Windstärken gleiche der Lärm dem einer Heupresse. „Ein schlagendes, stampfendes Geräusch.“ Dann sei da noch der Infraschall; Frequenzen, die nicht hörbar, aber dennoch spürbar seien. Vibrationen, die sie nicht schlafen lassen. Vogelarten, die ausbleiben. Schatten, die durch die Zimmer zucken, als hätte die Welt einen Wackelkontakt. „Das hier ist kein Zuhause mehr“, sagt sie.

Jutta Reichardt leert den Eimer und setzt sich auf die Terrasse vor ihrem Haus, es gibt Rhabarberkuchen und Tee, daneben liegt ein Buch, über das sie immer wieder ihre Hand streifen lässt: „Wind Turbine Syndrome“, eine Forschungsarbeit einer amerikanischen Ärztin. Eine Sammlung von Fällen, Menschen, denen es ähnlich wie Jutta Reichardt geht. Die an Tinnitus leiden, an Bluthochdruck. Es ist einer von vielen Belegen, die Jutta Reichardt und ihr Mann über die Jahre gesammelt haben. Es gibt australische Studien, Untersuchungen aus Portugal, Erfahrungen von Menschen aus ganz Norddeutschland, die einen Zusammenhang sehen zwischen ihren gesundheitlichen Beschwerden und den Windkraftwerken um sie herum. Manche äußern nur Befürchtungen, andere sehen schon Beweise.

Reichardt ist Sprecherin der EPAW, der Europäischen Plattform gegen Windkraftanlagen, Aktivisten aus 22 Ländern sind daran beteiligt. Sie spricht von Dezibelzahlen, von der „vibrations-akustischen Krankheit“, davon, dass manche Symptome verschwinden, wenn sie und ihr Mann nach Frankreich in den Urlaub fahren, und dass sie wiederkommen, sobald sie zurück auf ihrem Grundstück sind. In Deutschland sei es verpönt, etwas gegen Windkraft zu sagen. Weil man dann als Klimakiller gelte oder als Atomfreund. Aber „langfristig geht es um die Volksgesundheit“,sagt sie.

Jutta Reichardt ist nicht so, wie man sich eine Windkraftgegnerin vorstellt: Sie ist nicht für Atomkraft, wählt nicht CDU, früher sei sie sogar für die Grünen gewesen, „das war, als es in der Partei noch Naturschützer gab“. Sie war Mitglied im Naturschutzbund, im BUND, als junge Frau demonstrierte sie in Brokdorf, ihr Mann in Biblis. X-mal sei sie vom Wasserwerfer getroffen worden, auf ihrem Auto klebte ein Anti-AKW-Aufkleber.

Reichardt müsste für die Windkraft sein, für diese „grüne und saubere Alternative“, wie es heißt. Und dass sie es nicht ist, zeigt, wie sich alte ideologische Meinungen neu mischen: Ein Atomkraftgegner muss nicht zwingend für Windenergie sein; eine Atom-Lobbyistin nicht mehr für die Kernenergie.

Müller kann genau sagen, wann sich ihr Blick auf die Kernenergie radikal veränderte. Es war der 11. März, Freitag. Hildegard Müller schaltete das Morgenmagazin im Fernsehen ein, so erzählt sie es, sie sah, dass in Japan die Erde gebebt hatte, Stärke 9,0, dass ein Tsunami auf die japanische Küste gerollt war, über japanische Atomkraftwerke hinweg. An den Tsunami von 2004 habe sie gedacht, sagt sie, mehr Bilder und Nachrichten rauschten herein, stündlich, minütlich, Notstrom-aggregate für die Reaktorkühlung fielen aus, noch am selben Tag richteten Müller und ihre Kollegen einen Krisenstab ein.

Und sofort, so sagt sie es, waren diese Fragen da, die sie, die Politik, die ganz Deutschland auch jetzt, keine vier Monate nach Fukushima, noch beschäftigen: „Welche Konsequenzen ziehen wir aus dieser Katastrophe? Was bedeutet das für Deutschland? Für die Wirtschaft und die Gesellschaft?“

Einen Monat später saß Müller bei Maybrit Illner in der Sendung und diskutierte nun für und nicht mehr gegen den Atomausstieg. Seitdem ist viel passiert in der deutschen Energiepolitik.

Die Bundesregierung hat ein Mora-torium verhängt, 7 von 17 Kraftwerken sofort vom Netz genommen, eine Ethikkommission hat getagt, eine Reaktor-sicherheitskommission geprüft. Und Ende Mai hat die Bundesregierung, in größter Eile, das neue Energiekonzept beschlossen, ein Gesetzespaket zum Energieumstieg.

„Wir machen hier eine Operation am offenen Herzen“, sagt Müller, von 2005 bis 2008 Staatsministerin von Angela Merkel, Mutter einer Vierjährigen. Sie spricht von Risikobewertung und Verantwortung. Sie kann das gut, sprechen. „Es ist ja nicht so, dass wir nichts vorhaben in diesem Land“, sagt sie, „die Energiewende ist zusammen mit den CO2-Zielen das ambitionierteste Vorhaben, das ein Industrieland weltweit hat.“ Ein nationales Projekt, 80 Millionen Menschen müssen da mitmachen.

Mitmachen?

Müller zögert nicht: „Es ist sicher so, dass vermehrt Eingriffe in die Lebensbereiche von Menschen notwendig werden.“ Nach geltendem Energiewirtschaftsrecht habe es immer schon hier und da mal Enteignungen gegeben. Es könne nicht jeder sagen: Energiewende ja, aber nicht bei mir im Vorgarten. „Das ist keine Drohung, sondern eine nüchterne Betrachtung der Sachlage.“

Jutta Reichardt, die Windkraftgegnerin, kennt die Sachlage. Seit 17 Jahren lebt sie in ihrem Haus, das Grundstück, der Teich, die Wiese gehören ihr. Enteignet fühlt sie sich trotzdem. „Wer würde denn so ein Grundstück noch kaufen“, fragt sie, „umzingelt von 122 Windrädern?“ Dieses Haus sei ihre Altersvorsorge, und: „Mein Mann hat hier sein Büro, seine Kunden.“ Reichardt würde gern gehen, weg, vielleicht ins Ausland, aber zurzeit sei das kaum möglich, sagt sie.

Reichardt überlegt einen Moment. „Ich war immer gegen Atomkraft“, erzählt sie, „aber nicht einfach, um dagegen zu sein.“ Es sei damals nicht die Angst vor dem GAU gewesen, die sie auf die Straße getrieben habe, „für mich war der eigentliche Skandal, dass man nicht wusste, wie man das Zeug wieder loswerden soll, dass man es bis heute nicht weiß“.

Sie atmet hörbar aus. „Und jetzt, mit der Windkraft, wiederholt sich das alles“, sagt sie, „man denkt heute genauso wenig über die Folgen dieser neuen Energieform nach wie damals bei der Atomkraft.“ Deutschland werde mit Windkraftanlagen zugepflastert, ohne dass man die gesundheitlichen Risiken kenne.

Es gibt eine Luftaufnahme von der Landschaft, die Jutta Reichardts Zuhause ist. Sie zeigt das ganze Ausmaß: Hunderte Windräder, die aus der flachen Landschaft ragen. Nachts blinken sie rot, tagsüber werfen sie Schatten, rund um die Uhr schicken sie ihren Schall. Reichardt und ihr Mann haben das Foto auf ihre Website windwahn.de gestellt, auf der es Rubriken gibt wie „Ökodiktatur“, „Krankheit“ oder „Naturschutz“.


Foto: Joachim Musehold 

Das Bild ist ein Blick auf die Gegenwart von Jutta Reichardt und ihren Mitstreitern aus den Dutzenden Bürgerinitiativen, die es mittlerweile in Norddeutschland gibt. Aber es ist auch ein Blick in die Zukunft, so könnte es aussehen, wenn die Energiewende gelingen soll: nicht mehr nur im Norden, sondern auch in Bayern, im Schwarzwald, entlang der Ferienstraße der Romanik in Sachsen-Anhalt. Von den heute installierten Windkraftanlagen leistet jede im Schnitt 1,3 Megawatt, das reicht, um 600 Haushalte zu versorgen. Mehr als 21000 Windräder drehen sich zurzeit in Deutschland – das entspricht etwa sieben Prozent der Stromerzeugung.

Bis 2020 soll der Anteil der Windkraft auf 20 Prozent gesteigert werden. Der Anteil der erneuerbaren Energien insgesamt von 17 auf 35 Prozent. Zunächst werden viele der alten Anlagen durch leistungsstärkere ersetzt werden. „Repowering“ nennt sich das: größere Maschinen, längere Rotorblätter, höhere Masten. Die neuen Windkraftanlagen sollen im Durchschnitt 5,5 Megawatt statt nur 1,3 leisten. Das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik hat ermittelt, dass zwei Prozent der Republik als Standorte für Windkraftanlagen in Frage kommen. Auf diesen Flächen könnten 62839 Windräder stehen.

Nicht jeder wird glauben, krank zu werden; nicht jeder empfindet das Geräusch von Windkraftanlagen als lebensbeein-trächtigend; und nicht jeder hat ein Problem mit dem Anblick von Stromtrassen, neuen Gaskraftwerken oder Pumpspeicheranlagen. Aber jeder wird eine Veränderung wahrnehmen, wird sie sehen, hören, spüren, die Energiewende.

Und Hildegard Müller treibt sie voran, die Energiewende, ist unterwegs, „um den Prozess in die richtige Richtung zu lenken“, so nennt sie es, wenn sie die Politik im Sinne ihrer Energieunternehmen beeinflus-sen will. Sie taucht auch mal im Deutschen Bundestag auf, spricht in einem Sitzungssaal in Berlin, Unter den Linden, zum Thema „EEG-Novelle – quo vadis?“. Sie trägt ein lindgrünes Kostüm, schwarz-braune Leopardenschuhe. Auf dem Stuhl neben ihr sitzt Thomas Bareiß, der Koordinator für Energiepolitik der CDU/CSU-Bundestags-fraktion, auch der Geschäftsführer vom Bundesverband Erneuerbare Energie ist da. Vertreter von Windkraftfirmen, von EnBW, E.on, aber vor allem sind es Bundes-tagsabgeordnete, die sich anhören, was Müller zu sagen hat.

Müller hat dieselben Dinge schon viele Male gesagt in den letzten Wochen. Zum Beispiel redet sie gern davon, dass die Bundesregierung ein atemberaubendes Tempo vorlege und die Gesetzgebung trotzdem handwerklich sauber sein müsse. Dass „am Ende des Tages“ der Verbraucher mit der Energiewende leben müsse. Auch von neuen Zielkonflikten spricht sie: von Umweltschützern, die Sorge um den Schweinswal haben, weil die Vibration beim Bau der Offshore-Anlagen dessen Orientierung störe. Und von Atomkraft-gegnern, die plötzlich auch gegen Windkraft seien. Die Zuhörer lachen dann. Menschen wie Jutta Reichardt sind gemeint.

Erzählt man Hildegard Müller von Jutta Reichardt und ihrer Situation, dann lächelt sie, dann sagt sie, dass man diese Sorgen genauso ernst nehmen müsse wie die Sorgen von Atomkraftgegnern. „Wir brauchen dringend eine einheitliche Abstandsregelung für Windkraftanlagen – in manchen Bundesländern sind es nur 300 Meter, in anderen wollen sie 1500“, sagt sie. Sie verstehe das. Sie sagt aber auch, dass sich viele Menschen hineinsteigern in solche Ängste.

Müller und Reichardt sind sich, ohne es zu wissen, schon einmal fast begegnet. Auf einer Messe, der Husum WindEnergy. Müller war da als Sprecherin der Energiewirtschaft, Reichardt kam als Demonstrantin. Müller sagte an diesem Tag: „Die Windenergie ist zum wichtigsten Pfeiler in der Erneuerbare-Energien-Erzeugung geworden. Ihr Anteil an der Stromerzeugung beträgt mittlerweile sieben Prozent und hat noch großes Erweiterungspotential.“ Reichardt fragte einen Windkraftbefürworter, wie viele AKW man denn schon abgeschaltet habe, dank der Windkraft. Der Mann antwortete: „Biblis A, seit zwei Jahren.“

Reichardt sagt, sie wünsche sich Ehrlichkeit von der Politik. „Dass die nicht so tun, als könne man alle deutschen AKW durch Windräder ersetzen.“ Viele in Deutschland glauben daran. Lächerlich findet Reichardt das, heuchlerisch und undemokratisch auch.

Reichardt will den Atomausstieg. Aber langsamer. Dezentraler, als es die Bundesregierung vorhat: „Das war doch gut, wie das geplant war, ein sukzessiver Ausstieg. Eine Zeitspanne, in der man sich überlegen müsste, was man wirklich als Alternative machen kann.“ Sie und ihr Mann denken, dass ein Ausbau der Geothermie gut wäre, dass Wirbelwasserkraftwerke eine Option seien. Und auch die Erforschung der Kernfusion als möglicher Energiequelle, dafür brauche man kein radioaktives Material. „Und dort, wo die dezentralen Lösungen nicht ausreichen, braucht man selbstverständlich Kohle und Gas.“ Reichardt und ihr Mann haben längst eine Solaranlage auf dem Dach, mit zehn Feldern. Sollten sie es irgendwann einmal schaffen, hier wegzukommen, träumen sie von einem Grundstück mit kleinem Bach, wo man ein Wirbelwasserkraftwerk anschließen kann.

Genauso wie Reichardt, die Windkraftgegnerin, findet auch Hildegard Müller, die Lobbyistin, dass mehr über „die unbequemen Seiten“ gesprochen werden müsse und ehrlicher. Zum Beispiel „darüber, dass wir länger konventionelle Kraftwerke werden einsetzen müssen, Kohle und Gas. Darüber, dass wir das Fehlende nicht einfach durch Photovoltaik oder Wind ersetzen können“. Müller sagt: „Die Photovoltaik-Anlage auf jedem Hausdach, die den einzelnen Bürger in seiner privaten Stromversorgung unabhängig macht, ist noch lange kein Garant für ein Industrieland, das ja rund um die Uhr seinen Strom braucht. Wir haben keine Speicher für die Erneuerbaren, nicht die Netze“, sagt sie, rund 3000 Kilometer fehlen. „Da nützt es nichts, wenn Sie 1000 Sonnenstunden im Jahr haben, aber 8700 Stunden im Jahr, an denen die Bürger versorgt werden sollen.“

Müller und Reichardt sind zwei Frauen, die das Gleiche wollen, ein Ende der Atomkraft. Aber Müller glaubt, dass die Bürger auch die große gesellschaftliche Idee hinter dem Ganzen sehen müssen und dass große Ideen manchmal Opfer bedeuten. Reichardt findet, dass die große Idee gerade das Land ruiniert.

Sie steht am Fähranleger auf Föhr und sieht zu, wie die Autos vom Festland auf die Insel fahren. Im Führerhaus eines Lkw hat ein Fahrer drei Miniaturwindräder aufgestellt, die sich hektisch hinter der Windschutzscheibe drehen. „Na, das ist ja wieder schön“, sagt Reichardt und verdreht ihre Augen. Reichardt ist hier in einer Klinik. Neben den Beschwerden, die sie auf die Windräder zurückführt, leidet sie an Lymphdrüsenkrebs. Es gebe Spezialisten in Amerika und Australien, die einen Zusammenhang zwischen Windrädern und Krebs für möglich halten. Reichardt steht in Kontakt mit ihnen, ist nicht überzeugt, aber sucht in ihrer Lage nach jedem Körnchen Wahrheit, auch wenn sich am Ende nichts finden lässt.

Tag für Tag trägt sie ihren Blutdruck in eine Liste ein, sammelt ihre ärztlichen Befunde und schickt die Daten ins Ausland. Sie setzt sich an den Strand, ein Fernglas um den Hals, mit dem sie die Austernfischer, aber auch die Windräder an der Küste sehen kann. Die Küste ist nicht mehr nur Küste, sondern ein gigantisches Windkraftgebiet. Ein Kraftwerk neben dem anderen ragt dort in die Höhe.

Reichardt erzählt, dass sich in den letzten Wochen viele Bürgerinitiativen aus ganz Deutschland bei ihr melden, zum Beispiel „unsere Mitstreiter aus Brandenburg und Hessen“. Viele Menschen fühlen sich bedroht durch diese Energiewende, sie verabreden sich, professionalisieren sich, schicken Mails herum: „Eil-Aktion aus Hessen“ oder „die neuen Volksseuchen“. An vielen Orten bilden sich neue Bürgerinitiativen: gegen Stromtrassen und für Erdkabel, gegen Pumpspeicherwerke oder Biomasse – immer dort, wo der Traum vom atomfreien Deutschland in das Leben der Menschen greift.

Bisher sind Atomausstieg und Energiewende nur abstrakte Begriffe. Jetzt, nach den Beschlüssen des Bundestages, wird sich zeigen, ob aus dem parlamentarischen Konsens auch ein gesellschaftlicher Konsens wird. Oder ob viele Menschen darauf beharren, dass sich ihr Leben nicht ändern darf. Technischer Fortschritt hat immer Opfer gefordert. Die Industrialisierung brachte Arbeitsplätze, aber kostete auch Menschenleben. Das Auto brachte Mobilität, aber auch Verkehrstote und Abgase. Mit dem Computer kam das Internet, aber auch Rationalisierung und Datenmissbrauch. Eine Gesellschaft ohne Atomstrom ist keine grüne Idylle und auch keine demokratische Idylle: Einige Bürger werden einen höheren Preis zahlen für die strahlenfreie Republik.

Reichardt sitzt auf einer Bank am Strand, schaut durch das milchige Licht auf die Küste. Sie sagt: „Da drüben, zwischen den Windkraftriegeln, ist schon jetzt nur noch eine einzige Lücke frei.“ Sie habe gehört, dass die nun auch noch geschlossen werde. „Vielleicht sehen wir die Vogelvielfalt dort zum letzten Mal.“

Ohne die Zustimmung solcher Menschen wie Jutta Reichardt wird die Energiewende für Müller und ihre Unternehmen, für die Kanzlerin und ihre Regierung mühsamer. Reichardt weiß, dass sie den Ausbau der Windenergie nicht verhindern kann. Aber sie weiß auch, dass sie den Fortschritt verlangsamen kann.

„Das ist keine Drohung“, würde Hildegard Müller sagen, „sondern eine nüchterne Betrachtung der Sachlage.“

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